Literatur-Auszug

Die Sintflut wird ausgegraben

Königsgräber der Sumerer.
Eine rätselhafte Schicht aus Lehm.
Sintflutspuren unter dem Wüstensand.
Eine Flutkatastrophe um 4000 v. Chr.


UND DER HERR SPRACH ZU NOAH:
GEHE IN DEN KASTEN, DU UND DEIN GANZES HAUS;

DENN VON NUN AN UBER SIEBEN TAGE WILL ICH REGNEN LASSEN AUF ERDEN / VIERZIG TAGE UND VIERZIG NACHTE / UND VERTILGEN VON DEM ERDBODEN ALLES, WAS WESEN HAT, WAS ICH GEMACHT HABE. UND DA DIE SIEBEN TAGE VERGANGEN WAREN, / KAM DAS GEWASSER DER SINTFLUT AUF ERDEN.
(1. Mos. 7, 1. 4. 10)


Wenn wir das Wort Sintflut hören, denken wir meist fast augenblicklich an die Bibel und an die Geschichte von der Arche Noah. Diese wundersame Geschichte aus dem Alten Testament wanderte mit dem Christentum um die Welt. So wurde sie zwar die bekannteste Uberlieferung von der Sintflut, aber sie ist keineswegs die einzige. In den Völkern aller Rassen gibt es verschiedenartige Uberlieferungen von einer ungeheuren Flutkatastrophe. So erzählten sich die Griechen den Flutbericht des Deukalion; schon lange vor Columbus hielten zahlreiche Erzählungen bei den Ureinwohnern des amerikanischen Kontinents die Erinnerung an eine große Flut lebendig; auch in Australien, in Indien, in Polynesien, in Tibet, in Kaschmir wie in Litauen werden Geschichten von einer Flut von Generation zu Generation bis zum heutigen Tage weitergereicht. Sollten sie alle nur Märchen, nur Sagen, sollten sie alle erfunden sein?

Die Vermutung liegt nahe, daß sie alle die gleiche weltweite Katastrophe widerspiegeln. Das ungeheuerliche Ereignis muß sich aber in einer Zeit zugetragen haben, in der schon denkende Wesen es erleben, überleben und die Kunde davon weitergeben konnten. Geologen glaubten, das uralte Rätsel von ihrem Fach aus lösen zu können, indem sie auf die Zwischeneiszeiten, die warmen Epochen unserer Erdgeschichte, verwiesen. Viermal stiegen die Spiegel der Weltmeere, als die ungeheuren, zum Teil viele tausend Meter dicken Eispanzer über den Kontinenten allmählich abzuschmelzen begannen. Die wieder frei gewordenen Wassermassen veränderten das Landschaftsbild, überschwemmten tief gelegene Küstengebiete und Ebenen und vernichteten ihre Menschen, ihre Tiere, ihre Pflanzenwelt. Kurzum, alle Deutungsversuche endeten in Spekulationen und Hypothesen. Denkbare Möglichkeiten genügen einem Historiker am allerwenigsten. Er verlangt stets einen eindeutigen, materiellen Beweis. Und den gab es nicht; kein Wissenschaftler, gleich welchen Fachgebietes, hatte ihn antreten können. Eigentlich durch einen Zufall - nämlich bei Forschungen, die auf ganz andere Dinge gerichtet waren - schien sich ein Beweis für die Sintflut wie von selber anzubieten. Und das geschah an einer Stätte, die wir schon kennengelernt haben: bei den Ausgrabungen in Ur!

Seit sechs Jahren durchforschen amerikanische und englische Archäologen schon das Land am Tell al Muqayyar, das mittlerweile einer einzigen riesigen Baustelle gleicht. Wenn die Bagdadbahn hier für einen Augenblick hält, staunen die Reisenden die hochgetürmten Halden aus abgeräumten Sandmassen an. Güterzüge voller Erdreich wurden bewegt, genau durchsucht, durch Siebe geschüttelt, jahrtausendealter Müll wie kostbares Gut behandelt. Beharrlichkeit, Sorgfalt, Mühe und Fleiß von sechs Jahren hatten eine stattliche Ausbeute erbracht. Den sumerischen Tempeln mit Magazinen, Fabrikationsstätten und Gerichtshöfen, den villenartigen Bürgerhäusern waren von 1926 bis 1928 Funde von solchem Prunk und Glanz gefolgt, daR alle vorherigen daneben verblaßten:

Die Königsgräber von Ur - so hatte Woolley im Uberschwang der Entdeckerfreude die Grabstätten vornehmer Sumerer getauft, deren wahrhaft königliche Pracht, in einem 15 m hohen Schuttkegel südlich der Tempel in langer Reihe übereinander angelegt, der Spaten freigelegt hatte. Die steinernen Grabgewölbe gleichen richtigen Schatzkammern, denn sie sind gefüllt mit allem Kostbaren, was Ur einst besaß. Goldene Trinkschalen und Becher, wundervoll geformte Kannen und Vasen, Geschirre aus Bronze, Mosaikreliefs aus Perlmutter, Lapislazuli und Silberwerk umgeben zu Staub zerfallene Tote. Harfen und Lyren lehnen an den Wänden. Ein junger Mann, "Held des Landes Gottes", wie eine Inschrift von ihm sagt, trug einen Goldhelm. Ein Goldkamm mit Blüten aus Lapislazulisteinen verziert, schmückte das Haar der schönen Sumerin Schub-ad, der "Lady Shub-ad", wie die Engländer sie nennen. Schönere Dinge hatten nicht einmal die berühmten Grabkammern der Nofretete und des Tut-ench-Amon enthalten. Dabei sind die "Königsgräber von Ur" mehr als 1000 Jahre älter als jene!

Aber neben den Kostbarkeiten hielten die Königsgräber noch ein beklemmendes, düsteres Erlebnis für die Menschen unserer Tage bereit, dem wir mit leichtem Schaudern gegenüberstehen. In den Grabkammern tauchten Gespanne auf; die Gerippe: der Zugtiere waren noch angeschirrt, jeder der großen Wagen mit kunstvollem Hausrat beladen. Das gesamte Gefolge hatte offenbar die Vornehmen in den Tod begleitet, wie die festlich gekleideten und geschmückten Skelette, von denen sie umgeben waren, vermuten ließen. Zwanzig enthielt das Grabmal der Lady Schub-ad, andere Grüfte bargen bis zu siebzig Skelette.

Was mochte sich hier einst abgespielt haben? Nicht die geringste Spur deutet darauf hin, daß hier Menschen einem gewaltsamen Tode geopfert worden waren. In feierlichem Zuge scheint das Gefolge mit von Stieren gezogenen Schatzwagen den Verstorbenen in die Gruft geleitet zu haben. Und während von außen das Grab vermauert wurde, betteten sie innen den toten Gebieter zur letzten Ruhe. Dann nahmen sie eine Droge, sammelten sich ein letztes Mal um ihn und starben freiwillig - um ihm auch in einem anderen Dasein weiter dienen zu können!

Zwei Jahrhunderte lang hatten die Bewohner von Ur in diesen Grabstätten ihre Vornehmen beigesetzt. Bei der Öffnung der üntersten und letzten Grabkammer sahen sich die Forscher aus dem 20. Jahrhundert n. Chr. in die Zeit 2800 Jahre v. Chr. versetzt.

Mit dem Herannahen des Sommers 1929 neigt sich die sechstc Grabungskampagne am Tell al Muqayyar ihrem Ende zu. Woolley hat seine eingeborenen Helfer noch einmal auf dem Hügel der "Königsgräber" angesetzt. Er läßt ihm keine Ruhe, er möchte sicher sein, ob die Erde unter dem am tiefsten gelegenen Königsgrab für die nächste Grabungsperiode weitere Entdeckungen bereit hält.

Nachdem die Grabfundamente abgetragen sind, lassen ein paar hundert Schaufelstiche bereits erkennen, daß immer noch Schuttschichten darunterliegen. Wie tief in die Vergangenheit mögen die stummen Zeitmesser zurückreichen2 Wann mag unter diesem Hügel auf jungfräulichem Boden eine allererste Siedlung entstanden sein? Das will Woolley wissen! Langsam, sehr vorsichtig läßt er, um Gewißheit zu haben, Schächte ausheben, steht dabei, prüft sofort die ausgehobenen Schichten. ªFast sogleich", schreibt er später in seinem Bericht, "wurden Entdeckungen gemacht, die unsere Vermutungen bestätigten: Direkt unter dem Boden eines der Königsgräber wurden in einer Schicht verbrannter Holzasche zahlreiche Tontafeln gefunden, die mit Schriftzeichen eines viel älteren Typs als die Inschriften der Gräber bedeckt waren. Nach den Schriftzeichen zu schließen, konnten die Tafeln ungefähr dem 30. Jahrhundert v. Chr. zugesprochen werden. Sie mußten also zwei bis drei Jahrhunderte älter sein als die Grabkammern."

Immer tiefer werden die Schächte, immer neue Schichten mit Scherben von Krügen, Töpfen und Schalen kommen herauf. Den Forschern fällt auf, daß die Keramik merkwürdigerweise unverändert bleibt. Sie sieht genauso aus wie die Fundstücke aus den Königsgräbern. In langen Jahrhunderten wäre also die Zivilisation bei dem Volk der Sumerer keinen bemerkenswerten Veränderungen unterworfen gewesen. Ungewöhnlich früh mußte sie demnach eine hohe Entwicklungsstufe erreicht haben.

Als nach langen Tagen einige Arbeiter Woolley zurufen ªWir sind auf dem Grund!", läßt er sich, um sich selbst zu vergewissern, auf den Boden des Schachtes hinab. Tatsächlich brechen in der Tiefe schlagartig die Spuren jeder Besiedelung ab. Auf unberührtem Boden ruhen letzte Bruchstücke von Haushaltsgeräten, hier und da sind Brandspuren vorhanden. "Endlich!" ist Woolleys erster Gedanke. Sorgfältig prüft er den Boden der Schachtsohle und stutzt: Das ist ja Lehm, reiner Lehm von der Art, wie er sich nur durch Ablagerungen im Wasser bildet! Lehm an dieser Stätte? Woolley sucht nach einer Erklärung; das konnte nur Schwemmsand sein, Anhäufungen von Sinkstoffen aus dem Euphrat von einst. Diese Schicht mußte entsta;nden sein, als der große Strom sein Delta weit in den Persischen Golf hinausschob, genauso, wie er es noch immer tut, wo an der Mündung in einer Breite von 25 Meter Jahr für Jahr neues Land ins Meer hineinwächst. Als Ur seine erste Blütezeit erlebte, floß der Euphrat hier so dicht vorbei, daß sich der große Stufenturm in seinen Wassern spiegelte, und man vom Heiligtum auf seiner Spitze auf den Golf hinaussehen konnte. Auf dem Lehmboden des alten Deltas mußte die erste Behausung entstanden sein.

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Messungen auf dem Gelände und noch einmal sorgsam angestellte Berechnungen lassen Woolley schließlich
zu einem ganz anderen Ergebnis und damit zu einem neuen Entschluß kommen.

ªIch sah, daß wir viel zu hoch waren. Es war kaum anzunehmen, daß die Insel, auf der die erste Siedlung gebaut wurde, so weit aus der Marsch geragt haben konnte."

Der Schachtboden, wo die Lehmschicht beginnt, liegt viele Meter über dem Stromspiegel, Sinkstoffe vom Euphrat können es also nicht sein. Was bedeutete aber dann diese merkwürdige Schicht? Wodurch war sie entstanden? Darauf weiß auch keiner seiner Mitarbeiter eine schlüssige Antwort. Also werden sie weitergraben, den Schacht tiefer treiben. Gespannt schaut Woolley zu, wie von neuem Korb auf Korb aus der Grube wandert und der Inhalt sofort untersucht wird. Immer tiefer senken sich die Spaten in die Schicht, ein Meter, zwei Meter - es bleibt reiner Lehm. Nach nahezu drei Metern ist genauso plötzlich wie sie begann die Lehmschicht zu Ende. Was mag nun kommen?

Schon die nächsten Körbe, die hinaus ans Tageslicht wandern, geben eine Antwort, von der sich keiner der Männer je hätte träumen lassen. Sie glauben ihren Augen nicht zu trauen. Sie hatten reines, jungfräuliches Erdwerk vermutet. Aber was sich ihnen jetzt im grellen Sonnenschein darbietet, ist erneut Schutt, wieder Schutt, Abfälle von einst, darunter zahlreiche Tonscherben. Unter einer fast drei Meter starken Lehmablagerung ist man von neuem auf menschliche Siedlungsreste gestoßen. Aussehen und Technik der Keramik haben sich auffallend verändert. Oberhalb der Lehmschicht waren Krüge und Näpfe offensichtlich auf der Töpferscheibe gedreht, diese hier sind dagegen noch von Hand geformt. Wie sorgfältig auch der Inhalt der Körbe unter der wachsenden Spannung der Männer gesiebt werden mag: nirgendwo sind Metallreste zu entdecken. Das primitive Werkzeug, das zum Vorschein kommt, besteht aus gehauenen Feuersteinen. Das muß die Steinzeit sein!

An diesem Tage tickt ein Telegraph in Mesopotamien die unerhörteste Nachricht in die Welt, die wohl je die Gemüter der Menschen erregt hat: "Wir haben die Sintflut gefunden!" Der überwältigende Fund in Ur bildet die Schlagzeilen der Presse in den USA und England.


Die Sintflut - das war die allein mögliche Erklärung für die mächtige Lehmablagerung unter dem Hügel von Ur, die eindeutig zwei Besiedlungsepochen trennte. Das Meer hatte seine unbezweifelbarenSpuren als Uberreste von kleinen Seetieren im Lehm hinter

lassen. Woolley muß sich so schnell wie möglich Gewißheit verschaffen; ein - wenn auch unwahrscheinliche r - Zufall könnte ihn und seine Männer genarrt haben. 300 Meter vom ersten Schacht entfernt, läßt er einen zweiten Schacht ausheben.


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Die Spaten legen das gleiche Profil frei: Töpferscheiben - Lehmschicht- Scherben handgeformter Tongefäße.

Um jeden Zweifel aus dem Weg zu räumen, läßt Woolley schließlich noch einen Schacht dort in die Schuttmassen treiben, wo die alte Siedlung auf einem natürlichen Hügel lag, also in Schichten, die erheblich höher lagen als das Lehmbett.

In etwa gleicher Tiefe wie in den beiden anderen Schächten hören auch hier die auf Töpferscheiben gedrehten Gefäße auf. Darunter folgen handgeformte Tontöpfe. Es ist genau, wie Woolley vermutet und erwartet hatte. Nur fehlt hier natürlicherweise die trennende Lehmschicht. "Ungefähr 16 Fuß (5 Meter) unter einem Ziegelpflaster", notiert Woolley, ªdas wir annähernd sicher auf 2700 v. Chr. datieren konnten, waren wir in den Ruinen jenes Ur, das vor der Flut bestanden hatte."


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Wie weit mag sich die Lehmschicht erstrecken? Welche Gebiete können von der Katastrophe erfaßt gewesen sein? Eine regelrechte Pirsch auf die Spuren der großen Flut setzt nun auch an anderen Stätten in Südrnesopotamien ein. Andere Archäologen entdecken bei Kisch, südöstlich des alten Babylon, dort wo sich Euphrat und Tigris in weitem Bogen einander nähern, einen weiteren gewichtigen Anhaltspunkt. Sie stoßen ebenfalls auf eine aus Sinkstoffen bestehende Schicht, allerdings ist sie hier nur etwa einen halben Meter stark. Mit Hilfe von Stichproben läßt sich allmählich der Bereich der gewaltigen Flut abstecken. Nach Woolleys Ansicht hat die Katastrophe nordwestlich vom Persischen Golf ein Gebiet in einer Ausdehnung von 630 Kilometer Länge und 160 Kilometer Breite verschluckt. Wenn man die Landkarte betrachtet, war es nur, wie wir heute sagen würden, ªein lokales Ereignis" - für die Bewohner dieser Flußniederung aber war das einst ihre ganze Welt.

Nach zahllosen Forschungen und Deutungsversuchen ohne konkretes Resultat war längst die Hoffnung aufgegeben worden, je das große Rätsel
Sintflut zu lösen, das in fern-dunkle Zeiträume zurückzuweichen schien, zu denen sich der Mensch nie würde vortasten können. Nun hatte Woolleys und seiner Männer rastlose und unbeirrte Arbeit ein auch für die Wissenschaftler überwältigendes Ergebnis erbracht: Eine große Flutkatastrophe, die an die Sintflut der Bibel, von Skeptikern häufig als Märchen oder Sage abgetan, erinnert, hatte nicht nur stattgefunden, sie war obendrein ein Ereignis in historisch greifbarer Zeit.

Zu Füßen des alten Stufenturmes der Sumerer, in Ur am Unterlauf des Euphrat, konnte man auf einer Leiter in einen schmalen Schacht hinabsteigen und die Hinterlassenschaft einer ungeheuren Flutkatastrophe - eine fast drei Meter starke Schicht aus Lehm - in Augenschein nehmen und mit der Hand betasten. Und an dem Alter der Schichten menschlicher Besiedlungen, an denen man wie an einem Kalender die Zeit ablesen kann, läßt sich auch bestimmen, wann die große Flut hereinbrach.

Es geschah um das Jahr 4000 v. Chr.!

Quelle: Werner Keller, Und die Bibel hat doch recht, Forscher beweisen die historische Wahrheit, Düsseldorf 1955, S.32-39